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Darf man berühmte Gedichte zu einer „Best of“-Liste zusammenfassen?

Darf man berühmte Gedichte und Verse nach einem „Best of Ranking“ bewerten? Mitnichten. Dennoch möchten wir an dieser Stelle auf den Alfred Kröner Verlag verweisen, der auf Basis von 200 Gedichtsammlungen (von 1850 bis 2004) die am häufigsten publizierten – und daraus schlussfolgernd – die berühmtesten deutsche Gedichte in einem Buch zusammengefasst. Darin liegt das „Abendlied“ von Matthias Claudius auf Platz 1. Es wurde in 154 Jahren insgesamt 84 mal veröffentlicht. Es folgt Goethes „Erlkönig“ mit 73 Abdrucken auf Platz 2. Zu beiden Gedichten finden Sie die ersten drei Strophen in der folgenden Liste.

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Berühmte Gedichte und Verse Autor Jahr Berühmte Gedichte (Auszug)
Abendlied
(„Der Mond ist aufgegangen“)
Matthias Claudius (1740-1815) 1778-1779 Der Mond ist aufgegangen
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar:
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
(…) Auszug

Erlkönig Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) 1782 Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.
(…) Auszug

Ode an die Freude
(Text der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven)
Friedrich Schiller (1759-1805) 1786 Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.

Wem der große Wurf gelungen, 
eines Freundes Freund zu sein,
wer ein holdes Weib errungen,
mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer‘s nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund!

Freude trinken alle Wesen
an den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
und der Cherub steht vor Gott.

An den Mond
(aus Goethes Schriften, Achter Band)
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) 1789 Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Ueber mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud’ und Schmerz
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd’ ich froh
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal,
Was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!
(…) Auszug

Der spielende Knabe Friedrich Schiller (1759-1805) 1795 Spiele, Kind, in der Mutter Schoß! Auf der heiligen Insel
Findet der trübe Gram, findet die Sorge dich nicht,
Liebend halten die Arme der Mutter dich über dem Abgrund,
Und in das flutende Grab lächelst du schuldlos hinab.
Spiele, liebliche Unschuld! Noch ist Arkadien um dich,
Und die freie Natur folgt nur dem fröhlichen Trieb,
Noch erschafft sich die üppige Kraft erdichtete Schranken,
Und dem willigen Mut fehlt noch die Pflicht und der Zweck.
Spiele, bald wird die Arbeit kommen, die hagre, die ernste,
Und der gebietenden Pflicht mangeln die Lust und der Mut.
Das Wiedersehen Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) 1797 Der Weltraum fernt mich weit von dir,
So fernt mich nicht die Zeit.
Wer überlebt das siebzigste
Schon hat, ist nah bei dir.

Lang sah ich, Meta, schon dein Grab,
Und seine Linde wehn;
Die Linde wehet einst auch mir,
Streut ihre Blum‘ auch mir,

Nicht mir! Das ist mein Schatten nur,
Worauf die Blüte sinkt;
So wie es nur dein Schatten war,
Worauf sie oft schon sank.

Dann kenn‘ ich auch die höhre Welt,
In der du lange warst;
Dann sehn wir froh die Linde wehn,
Die unsre Gräber kühlt.

Dann… Aber ach ich weiß ja nicht,
Was du schon lange weißt;
Nur daß es, hell von Ahndungen,
Mir um die Seele schwebt!

Mit wonnevollen Hoffnungen
Die Abendröte kommt:
Mit frohem, tiefen Vorgefühl
Die Sonnen auferstehn!

Der Handschuh Friedrich Schiller (1759-1805) 18.6.1797 Vor seinem Löwengarten,
Das Kampfspiel zu erwarten,
Saß König Franz,
Und um ihn die Großen der Krone,
Und rings auf hohem Balkone
Die Damen in schönem Kranz.

Und wie er winkt mit dem Finger,
Auftut sich der weite Zwinger,
Und hinein mit bedächtigem Schritt
Ein Löwe tritt und sieht sich stumm
Rings um,
Mit langem Gähnen,
Und schüttelt die Mähnen
Und streckt die Glieder
Und legt sich nieder.

Und der König winkt wieder,
Da öffnet sich behend
Ein zweites Tor,
Daraus rennt
Mit wildem Sprunge
Ein Tiger hervor
Wie der den Löwen erschaut,
Brüllt er laut,
Schlägt mit dem Schweif
Einen furchtbaren Reif,
Und recket die Zunge,
Und im Kreise scheu
Umgeht er den Leu
Grimmig schnurrend,
Drauf streckt er sich murrend
Zur Seite nieder.

Und der König winkt wieder;
Da speit das doppelt geöffnete Haus
Zwei Leoparden auf einmal aus,
Die stürzen mit mutiger Kampfbegier
Auf das Tigertier,
Das packt sie mit seinen grimmigen Tatzen,
Und der Leu mit Gebrüll
Richtet sich auf, da wirds still;
Und herum im Kreis,
Von Mordsucht heiß,
Lagern sich die greulichen Katzen.

Da fällt von des Altans Rand
Ein Handschuh von schöner Hand
Zwischen den Tiger und den Leun
Mitten hinein.

Und zu Ritter Delorges spottender Weis
Wendet sich Fräulein Kunigund:
„Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß,
Wie Ihr mir’s schwört zu jeder Stund,
Ei, so hebt mir den Handschuh auf.“

Und der Ritter in schnellem Lauf
Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger
Mit festem Schritte,
Und aus der Ungeheuer Mitte
Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.

Und mit Erstaunen und mit Grauen
Sehens die Ritter und Edelfrauen,
Und gelassen bringt er den Handschuh zurück, 
Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde.
Aber mit zärtlichem Liebesblick –
Er verheißt ihm sein nahes Glück –
Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
„Den Dank, Dame, begehr ich nicht“,
Und verläßt sie zur selben Stunde.

Das Lied von der Glocke Friedrich Schiller (1759-1805) 1799 1. Strophe von insgesamt 10

Festgemauert in der Erden
Steht die Form aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden,
frisch, Gesellen, seid zur Hand!

Von der Stirne heiß
rinnen muß der Schweiß,
soll das Werk den Meister loben;
doch der Segen kommt von oben.

Hälfte des Lebens Friedrich Hölderlin (1770-1843) 1804 Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Mephistopheles
(aus „Faust 1. Eine Tragödie“)
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) 1808 Ich bin der Geist der stets verneint!
Und das mit Recht, denn alles, was entsteht,
ist wert, dass es zugrunde geht.
Drum besser wär‘s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz: das Böse nennt,
mein eigentliches Element.
(…) Auszug
Abreise Ludwig Uhland (1787-1862) 1811 So hab ich nun die Stadt verlassen,
wo ich gelebet lange Zeit.
Ich ziehe rüstig meiner Straßen,
es gibt mir niemand das Geleit.

Man hat mir nicht den Rock zerrissen
(es wär‘ auch schade für das Kleid),
noch in die Wange mich gebissen
vor übergroßem Herzeleid.

Auch keinem hat‘s den Schlaf vertrieben,
dass ich am Morgen weiter geh.
Sie konnten‘s halten nach Belieben,
von einer aber tut‘s mir weh.

Lebensgruß
(aus „Junge Leiden“ aus dem „Buch der Lieder“)
Heinrich Heine (1797-1856) 1821 XIX

Eine große Landstraß ist unsere Erd,
Wir Menschen sind Passagiere;
Man rennet und jaget, zu Fuß und zu Pferd,
Wie Läufer oder Kuriere.

Man fährt sich vorüber, man nicket, man grüßt
Mit dem Taschentuch aus der Karosse;
Man hätte sich gerne geherzt und geküßt,
Doch jagen von hinnen die Rosse.

Kaum trafen wir uns auf derselben Station,
Herzliebster Prinz Alexander,
Da bläst schon zur Abfahrt der Postillion,
Und bläst uns schon auseinander.

Ein Jüngling liebt ein Mädchen
(39. Gedicht im „Lyrischen Intermezzo“ aus dem „Buch der Lieder“)
Heinrich Heine (1797-1856) 1823 Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.

Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.

Die Loreley Heinrich Heine (1797-1856) 1824 Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar;
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen
die Lore-Ley getan.

Wer zum ersten Male liebt
(aus „Die Heimkehr“ aus dem „Buch der Lieder“)
Heinrich Heine (1797-1856) 1827 LXIII

Wer zum ersten Male liebt,
sei‘s auch glücklos, ist ein Gott;
Aber wer zum zweiten Male glücklos liebt,
der ist ein Narr.

Ich, ein solcher Narr,
ich liebe wieder ohne Gegenliebe;
Sonne, Mond und Sterne lachen,
und ich lache mit – und sterbe.

Er ist’s
(aus „Maler Nolten. Novelle in zwei Theilen“)
Eduard Mörike (1804-1875) 1829 Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab‘ ich vernommen!
Mondnacht Joseph von Eichendorff (1788-1857) 1837 Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküßt,
daß sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müßt.

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.

Ein Weib
(aus „Neue Gedichte: Romanzen“)
Heinrich Heine (1797-1856) 1840-44 Sie hatten sich beide so herzlich lieb,
Spitzbübin war sie, er war ein Dieb.
Wenn er Schelmenstreiche machte, 

sie warf sich aufs Bett und lachte. 



Der Tag verging in Freud und Lust,
des Nachts lag sie an seiner Brust.
Als man ins Gefängnis ihn brachte, 

sie stand am Fenster und lachte.

Er ließ ihr sagen: O komm zu mir,

ich sehne mich so sehr nach dir.
Ich rufe nach dir, ich schmachte,
sie schüttelt‘ das Haupt und lachte.

Um sechse des Morgens ward er gehenkt,
um sieben ward er ins Grab gesenkt;
Sie aber schon um achte,
trank roten Wein und lachte.

Deutsche Nationalhymne
(3. Strophe des „Deutschlandliedes“)

Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)


Melodie von Joseph Haydn (1732-1809)

1841 Einigkeit und Recht und Freiheit,
für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben,
brüderlich mit Herz und Hand!

Einigkeit und Recht und Freiheit,
sind des Glückes Unterpfand.
Blüh‘ im Glanze dieses Glückes,
blühe, deutsches Vaterland!

Sie erlischt

Heinrich Heine (1797-1856)

1851 Der Vorhang fällt, das Stück ist aus,
Und Herrn und Damen gehn nach Haus.
Ob ihnen auch das Stück gefallen?
Ich glaub, ich hörte Beifall schallen.
Ein hochverehrtes Publikum
Beklatschte dankbar seinen Dichter.
Jetzt aber ist das Haus so stumm,
Und sind verschwunden Lust und Lichter.

Doch horch! ein schollernd schnöder Klang
Ertönt unfern der öden Bühne; ­
Vielleicht, daß eine Seite sprang
An einer alten Violine.
Verdrießlich rascheln im Parterr
Etwelche Ratten hin und her,
Und alles riecht nach ranzgem Öle.
Die letzte Lampe ächzt und zischt
Verzweiflungsvoll und sie erlischt.
Das arme Licht war meine Seele.

Die Stadt Theodor Storm (1817-1888) 1852 Am grauen Strand, am grauen Meer 
Und seitab liegt die Stadt; 
Der Nebel drückt die Dächer schwer, 
Und durch die Stille braust das Meer 
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai 
Kein Vogel ohn‘ Unterlass; 
Die Wandergans mit hartem Schrei 
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, 
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir, 
Du graue Stadt am Meer; 
Der Jugend Zauber für und für 
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, 
Du graue Stadt am Meer.

Frau Sorge Heinrich Heine (1797-1856) 1851 In meines Glückes Sonnenglanz,
Da gaukelte fröhlich der Mückentanz.
Die lieben Freunde liebten mich
Und teilten mit mir brüderlich
Wohl meinen besten Braten
Und meinen letzten Dukaten.

Das Glück ist fort, der Beutel leer,
Und hab auch keine Freunde mehr;
Erloschen ist der Sonnenglanz,
Zerstoben ist der Mückentanz,
Die Freunde, so wie die Mücke,
Verschwinden mit dem Glücke.

An meinem Bett in der Winternacht
Als Wärterin die Sorge wacht.
Sie trägt eine weiße Unterjack‘,
Ein schwarzes Mützchen, und schnupft Tabak.
Die Dose knarrt so gräßlich,
Die Alte nickt so häßlich.

Mir träumt manchmal, gekommen sei
Zurück das Glück und der junge Mai
Und die Freundschaft und der Mückenschwarm
Da knarrt die Dose – daß Gott erbarm,
Es platzt die Seifenblase –
Die Alte schneuzt die Nase.

Ballade des äußeren Lebens Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) 1894 Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
vernehmen wir und reden viele Worte
und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
(…) Auszug

Kennst du das auch? Hermann Hesse (1877-1962) 1901 Kennst du das auch, daß manchesmal
Inmitten einer lauten Lust,
Bei einem Fest, in einem frohen Saal,
Du plötzlich schweigen und hinweggehn mußt?

Dann legst du dich aufs Lager ohne Schlaf
Wie Einer, den ein plötzlich Herzweh traf;
Lust und Gelächter ist verstiebt wie Rauch,
Du weinst, weinst ohne Halt – Kennst du das auch?

Herbsttag Rainer Maria Rilke (1875-1926) 21.9.1902 Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Der Panther 
(im Jardin des Plantes, Paris)
Rainer Maria Rilke (1875-1926) 6.11.1902 Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Das ästhetische Wiesel Christian Morgenstern (1871-1914) 1905 Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr
weshalb?

Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:

Das raffinierte Tier
tat’s um des Reimes willen.

Im Nebel Hermann Hesse (1877-1962) 1905

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Das Karussell 
(im Jardin du Luxembourg, Paris)
Rainer Maria Rilke (1875-1926) Juni 1906 Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel.

Die Ameisen Joachim Ringelnatz (1883-1934) 1912 In Hamburg lebten zwei Ameisen,
die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
da taten ihnen die Beine weh,
und da verzichteten sie weise,
dann auf den letzten Teil der Reise.
Sachliche Romanze Erich Kästner (1899-1974) 1928 Als sie einander acht Jahre kannten,
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort.
und konnten es einfach nicht fassen.

Die unverstandene Frau Erich Kästner (1899-1974) 1930 Er band, vorm Spiegel stehend, die Krawatte
Da sagte sie (und blickte an die Wand):
„Soll ich den Traum erzählen, den ich hatte?
Ich hielt im Traum ein Messer in der Hand.

Ich hob es hoch, mich in den Arm zu stechen,
und schnitt hinein, als sei der Arm aus Brot.
Du warst dabei. Wir wagten nicht zu sprechen.
Und meine Hände wurden langsam rot.

Das Blut floss lautlos in die Teppichranken.
Ich hatte Angst und hoffte auf ein Wort.
Ich sah dich an. Du standest in Gedanken.
Dann sagtest du: ‚Das Messer ist ja fort…‘

Du bücktest dich. Doch es war nicht zu finden.
Ich rief: ‚So hilf mir endlich!‘ Aber du,
du meintest nur: ‚Man müsste dich verbinden‘,
und schautest mir wie einem Schauspiel zu.

Mir war so kalt, als sollte ich erfrieren.
Du standest da, mit traurigem Gesicht,
und wolltest rasch dem Arzt telefonieren
und Rettung holen. Doch du tatst es nicht.

Dann nahmst du Hut und Mantel, um zu gehen,
und sprachst: ‚Jetzt muss ich aber ins Büro!‘
Und gingst hinaus. Und ich blieb blutend stehen.
Und starb im Traum. Und war darüber froh…“

Er band, vorm Spiegel stehend, die Krawatte.
Und sah im Spiegel, dass sie nicht mehr sprach.
Und als er sich den Schlips gebunden hatte.
griff er zum Kamm. Und zog den Scheitel nach.

Stufen (hieß urspr. „Transzendieren!“) Hermann Hesse (1877-1962) 4.5.1941

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend,
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend,
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Was es ist Erich Fried 
(1921-1988)
1983

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

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Quellen zur Liste „Berühmte Gedichte“:

Alfred Kroener Verlag, Gedicht-Bände mit berühmte Gedichte, Lyrik und Verse, Heine-Gedichte, Rilke-Gedichtbände etc.


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